Mittwoch, 20. Juli 2016

Das Gefühl

Kennt ihr das? Ein Geräusch, ein Schmerz, ein Gefühl das so lange anhält, dass man es einfach nicht mehr wahrnimmt. Es tritt ins Unterbewusstsein, der Körper schützt sich. Er gewöhnt sich an die Belastung und obwohl wir es nicht mehr wahrnehmen, leidet unser ganzer Körper darunter.


Eines Tages war es anders. Was es war konnte er nicht sagen, es war einfach anders. Er war aufgestanden, hatte sich gewaschen und saß nun bei seiner zweiten Tasse Kaffe, die Zeitung vor sich auf dem kleinen Tisch in der Küche ausgebreitet. 
Die Marmelade auf seinem Toastbrot tropfte immer wieder auf die grauen Seiten, es störte ihn nicht, die dicke süße Schicht auf dem labbrigen Brot war ihm eines seiner liebsten Rituale. 
Die Zeitung berichtete wieder einmal über die schrecklichsten Dinge des vergangenen Tages. Seit dem Weltmeistertitel, der nun auch schon wieder zwei Jahre zurück lag, hatte er keine wirklich freudige Nachricht auf der Titelseite wahrgenommen. Es wurde nicht mit Blut und Angst gespart. Knochen für die hungrigen Gaffer. 
Er nahm wieder einen großen Schluck aus der Tasse, die er vor über zwanzig Jahren auf einem Rummel beim Dosenwerfen gewonnen hatte und die für ihn der Halt am Morgen geworden war. Ihm schmeckte auch heute der Kaffe noch nicht, doch als sein Vater ihm den ersten Schluck angeboten hatte und seine Mutter nicht hinsah, da fühlte er sich zum ersten Mal älter. Respektiert vom Vater. Seit diesem Tag gehörte das dunkelste aller Getränke zu seinem Morgen, durfte nicht fehlen. 
Die Zeitung las er gründlich, den Sport legte er zusammen um ihn später neben die Toilette zu legen. 
Während er las  aß er Schnitz für Schnitz eine sehr süße Orange, die er zuvor gründlich geschält und zerteilt hatte. Er genoss den Zucker, die Konsistenz der Stücke und den sanften Geschmack, der seine Zunge umhüllte.. Er hatte es schon einmal mit Mandarinen und Kiwis versucht, doch nichts war vergleichbar mit den kleinen Orangen von dem noch kleineren Laden, der zwei Straßen weiter sich  in einer Ecke versteckte.
Als er den letzten Schnitz gegessen hatte war er mit der Zeitung fertig. Fühlte sich informiert. Doch die guten Nachrichten wurden jedes Mal verdrängt, traten freiwillig in den Hintergrund. Umso mehr konnte er sich über die böse Welt aufregen. 
Wie immer schrieb er mit hochrotem Kopf einen Leserbrief. Sie alle ähnelten sich, die wenigsten wurden veröffentlicht. 
Eigentlich sollte das ein guter Start in den Tag sein, denn es war wie immer. Doch etwas störte ihn. Er kam nicht darauf. Mit einem unguten Gefühl ging er zur Arbeit, plötzlich ging es ihm wieder gut. Das Gefühl, das sich bis diesen Moment gehalten hatte, war einfach verschwunden. Nach Feierabend stieg er ins Auto, immer noch lächelnd, beseelt von seiner Arbeit.
Voller Freude stieg er aus dem Auto, stieg die drei Stockwerke nach oben, um von dem unguten Gefühl in seiner kleinen Wohnung wieder übermannt zu werden. 
Mit zitternden Händen ging er in die Küche, öffnete die Wasserflasche, die er sich am Morgen mit einem Glas vorbereitet hatte und plötzlich war Stille und es ging ihm gut.

Es gibt so viele Dinge, die können wir nicht beeinflussen. Die Wahrnehmung von Nachrichten, die unbewusste Einordnung in wichtig und unwichtig, die dazugehörenden Gefühle und eben das nervende, konstante Tönen einer nicht ganz verschlossenen Wasserflasche. Das gilt es zu akzeptieren und jederzeit zu hinterfragen. Sonst wird der Verstand zum Gauner und wir zu einer unzufriedenen Marionette, deren Fäden so viele in der Hand halten und doch so wenige. Chaos, das alles in ein großes Wirrwarr verwandeln kann. Es geschieht alles unbemerkt, Schmerz im Unterbewussten ist der Schlimmste, der dreckigste von allen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen