Montag, 25. Juli 2016

Der Junge im Spiegel

Ich ging an einem windigen Tag den Strand entlang. Mein Ziel war es Glückssteine zu finden, dabei lies ich meine Gedanken kreisen. Manchmal reicht ein kleiner Gedanke, um daraus etwas erschaffen zu können. Bis ich dann meinen Glückssteine gefunden hatte, entstand folgende Geschichte.

Der Junge im Spiegel

Der alte Mann blickte dem Jungen in sein Gesicht. Die Pickel in seinem Gesicht zeugten von wenig Erfahrung. Der Mann fragte sich, ob diese kurze Lebenszeit schön war oder ob der Junge es nicht erwarten konnte  alles hinter sich zu lassen. 
Doch während seine Gedanken in ihren Bahnen kreisten wurde sein Blick klarer. Es stand kein Junge vor ihm, er stand vor einem Spiegel und blickte in sein eigenes Gesicht. Die Pickel waren lange keine Pickel mehr, es waren Narben. Narben, die nicht von längst vergangenen Pubertät zeugten, sie stammten von seinem Vater. Sie waren Geschenk,  weil er nie das erreichen konnte, was von ihm erwartet wurde. Sein Vater war schon immer leicht zu erregen und wenn das geschah war man besser nicht in seiner Nähe. Doch manchmal konnte man dem Sturm  nicht entkommen. 
Zu seinem 14. Geburtstag bekam er seine erste Narbe geschenkt. Als sein brandneuer Football nach dem ersten Wurf seines Vaters gegen seinen Kopf klatschte, wurde sein Kopf noch fester gegen den nächsten Tisch geklatscht. 
Seine Kindheit erschien ihm immer grausamer, niemand war da ihm zu helfen. Seine Mutter hatte ihren Mann schon lange verlassen und ihn einfach allein bei ihm gelassen, dem Monster, wie sie ihn nannte. 
Dem alten Mann floss eine Träne über die rechte Wange, sie brannte auf seiner faltigen Haut und als sie seinen Mundwinkel erreicht,  schmeckte er das Salz. Salzige Erinnerungen, die jedes achso schöne weitere Erlebnis immer eine falsche Grundwürze verlieh. 
Von den Gefühlen wie gelähmt sank er in den Stuhl, den Kopf in seine Hände gestützt. Der Kopf wurde immer schwerer und die Tränen fanden nun immer mehr ihren Weg. Er sank weiter in den Stuhl, sah von außen aus wie ein leerer Kartoffelsack. Ein Häufchen Elend.
Dabei bemerkte er schon lange nicht mehr die zwei Personen im Raum. Hier war es eingerichtet wie ein stereotypes Krankenzimmer. Alles war in weiß gehalten, am Fenster stand ein Krankenbett. Direkt neben der Türe befand sich ein Waschbecken mit Spiegel, vor dem er nun saß, kauernd. Hinter ihm stand ein deutlich jüngerer Mann, sein Gesicht hatte Narben, kleine und große. 
Hätte der Vater ihn bemerkt wäre es ihm vielleicht wieder bewusst geworden, dass die Geschichten, die ihm gerade so viel Kummer bereiteten, nicht seine waren, sondern die seines  Sohnes. Dass er der Vater war, der manches Mal das falsche Maß angewendet hatte. 
Der Sohn war im regen Gespräch mit einer steril gekleideten Frau mittleren Alters. Sie hielt ein Klemmbrett in der linken Hand, mit der rechte Hand machte sie darauf Notizen, hakte Punkte ab und strich unnötiges durch. 
„Ihnen ist sicher bewusst, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist. In den letzten zwei Monaten verlief alles extrem schnell, eine Besserung ist leider nicht mehr in unserem Erwartungsspielraum. Wir gehen davon aus, dass echte lichte Momente nicht mehr oft seinen Verstand ordnen werden.“
Der junge Mann nickte langsam, schien abzuwägen, was er sagen sollte. Langsam atmete er tief ein und räusperte sich. Er blickte noch einmal zu seinem Vater, der heute nur noch ein Schatten von seinem früheren Ich war. 
„Wissen Sie, mein Vater war nie perfekt. Wenn er einen zu viel gegen den Durst getrunken hatte wurde er oft aggressiv. So hat er auch meine Mutter vertrieben, die eines Nachts Hals über Kopf abgehauen ist. Ich blieb bei ihm, wollte ihm helfen. Wir verstanden uns auch sehr gut und er war mir ein toller Vater. Jedoch war er betrunken wie rasend und so entstanden auch die“, er strich über die Narben, „ich habe aber trotzdem zu ihm gehalten, wenn er mit der Flasche in der Hand einschlief habe ich sie entsorgt. Es war nicht immer einfach, aber gemeinsam schafften wir, dass er immer seltener zur Flasche griff. Ich war sein Halt, sein Anker, der ihn immer wieder erdete. Schließlich war er trocken.“ 
Wieder schweifte sein Blick zu seinem Vater. In den letzten Jahren war ihre Beziehung wieder so intensiv geworden wie in seiner Kindheit und Jugend. Nur Alkohol spielte keine Rolle mehr. Grund dafür, dass sie sich plötzlich öfters als Weihnachten und Geburtstage zu sehen bekamen war ein sehr wirrer Anruf. Der Sohn, der sich deshalb große  Sorgen gemacht hatte, zog nach kurzem Überlegen wieder bei seinem Vater ein. Dieser musste nichts sagen, dass hier etwas absolut nicht so lief wie es laufen sollte war schnell klar. Es brauchte aber einige Zeit, bis der Vater sich dazu überwand dem Sohn von seiner Krankheit zu erzählen. 
Die Dame mit der sterilen Kleidung hörte betroffen der Geschichte zu. Trotz ihrer Professionalität, ihrer Distanz wirkte sie traurig.
„Ihr Leben war sicher nie einfach, aber wie kam es nun zu dem Entschluss ihres Vaters?“
„Als Vater mir von den Veränderungen seines Geistes, seines Denkens und seinem Verhalten erzählte machte mich das sehr traurig. Ja, er hatte schon früher Probleme, doch abseits davon war er der Mensch, der mir damals am wichtigsten war. Er hat mich zu dem gemacht was ich heute bin. Mit den guten Dingen die er mir vorgelebt hat lehrte er mir so viel Richtiges. Er zeigte mir was falsch und was richtig ist. Er unterstützte mich immer in meinem Drang mich dem Schreiben zu widmen. Hat mich immer gestärkt weiter zu machen und nicht aufzugeben. Mit den schlechten Dingen“, wieder strich er über seine Narben,“zeigte er mir wie es nicht geht. Hier war er mir zwar kein Vorbild, aber was sagt man.... Auch durch schlechte Vorbilder kann man gute Dinge lernen. 
Ich liebte ihn über alles, sowohl seine Kanten als auch seine sanfte Seite. Und als er mir dann sagte, dass er, wenn er sich noch weiter verändern würde und ein Weg zurück nicht möglich sei den Schlussstrich ziehen wollte akzeptierte ich dies. Er war immer der Lebemann, dem Bewegung und Natur so viel Kraft gab, deshalb verstand ich es, dass er niemals so enden wollte.“ Für einen kurzen Moment erwartete auch er den salzigen Geschmack von Tränen, doch er hatte sie in den letzten Monate alle aufgebraucht. „Gemeinsam setzten wir seinen Wunsch auf Papier. Zuvor war Sterbehilfe legalisiert worden und so hatte er die Sicherheit, dass seinem Wunsch nachgegangen wird. Ab hier genossen wir so weit wie möglich das Leben. Er hatte sich eine Liste mit Dingen angelegt, die er noch erleben wollte und wir schafften noch so einiges.“ Zum ersten Mal strahlte der Mann für kurze Zeit, bis er noch einmal kurz inne hielt. „Wir hatten das Ritual, dass er mir am Abend vor dem zu Bett gehen sagte, dass alles in Ordnung war. Er hatte den Wunsch, dass wenn er dieses Ritual brach wir zu Ihnen kommen. Das war nun vor vier Wochen. Wie geht es nun weiter? Sie wollen ihn doch nicht so seinem Schicksal überlassen?“
Wieder blickte die Frau verständnisvoll, aber professionell. Das Gesetz schrieb vor, dass Arzt und Patient sich diese vier Wochen Zeit nahmen sich kennen zu lernen. 
„Sie wissen, dass das Gesetz in Härtefällen greift. Niemand soll hier Hilfe bekommen, der nur aus einem Gefühl heraus diese Entscheidung getroffen hat. Ihr Vater wird hier also das bekommen, was er verlangt hat. Er hat es zu einem Zeitpunkt verlangt, in dem es ihm noch deutlich besser ging und normalerweise muss eine solche Entscheidung, die schon länger zurückliegt, noch einmal mit mir oder einem anderen Psychologen überdacht werden. In Gesprächen. Dies war mit ihrem Vater zu keinem Zeitpunkt mehr sinnvoll möglich. Sehe ich richtig, dass Sie sein letzter naher Verwandter sind?“
„Ja.“, der junge Mann wusste nun was kommen würde. Er war vorbereitet. Auch das hatten er und sein Vater von Anfang an besprochen. Würde die Krankheit sich so schnell in seinem Kopf ausbreiten, müsste der Sohn seinen letzten Willen noch einmal stellvertretend aussprechen. Er müsste für ihn das letzte Geschäft seines Lebens tätigen. 
„Gehen wir in mein Büro, ich habe dort die nötigen Papiere schon vorbereitet.“, die Frau setzte sich in Bewegung. Der junge Mann legte noch einmal seinem Vater die Hand auf die Schulter und dieser blickte ihn mit leerem Blick an. „Ich bin gleich zurück, Papa.“

Der Junge im Spiegel lächelte, er freute sich.

Im Büro erklärte die Dame die weiteren Schritte. Eigentlich waren es nur noch drei Unterschriften, ein Kreuz und sein Vater wäre frei. Frei von diesem Tunnel, der kein vorwärts kannte, sondern ihn immer wieder gnadenlos nach hinten schleuderte und ihm einen Blick auf die schlimmsten seiner Erinnerungen gewährte. Der Tunnel war grausam, er zeigte seinem Vater nie Erinnerungen, die schön waren, für Sohn und für Vater die Basis ihrer so engen Beziehung waren. Der Tunnel wollte ihm schmerzen, zeigte falsche Perspektiven, ließ ihn den Schmerz seines Sohnes fühlen. Noch grausamer wurde der Tunnel, wenn der Verstand doch die Fluchttüre fand, dann versuchte er wie ein riesiges Staubsaugerrohr den alten Mann wieder hinein zu ziehen. Und der Tunnel lernte dazu, konnte immer schneller reagieren, zog und sog am Verstand, so dass auch die klaren Momente in den letzten Tagen noch mehr Kraftreserven aufgebraucht hatten, bis der alte Mann die Fluchttüre verfluchte und sich ergab. Der Tunnel war sein Gefängnis geworden, das unaufhörlich gegen ihn arbeitete. 

Mit den drei Unterschriften und dem Kreuz an der richtigen Stelle löste der Sohn die Ketten seines Vaters. 
Die Frau in weiß ordnete die Blätter in einen kleinen Ordner ein, auf dem der Name des Alten stand. Sie legte ihn bei Seite und nahm das Telefon zur Hand.
„Ben? Ja,... Genau... Ja... Zimmer 4. Genau... Jetzt.“, sie legte das Gerät auf den Tisch und wandte sich wieder dem Mann zu. „Ein Pfleger wird ihrem Vater nun das Mittel verabreichen. Wenn Sie wollen können Sie ihn nun bei seinen letzten Schritten begleite.

Der alte Mann lag nun im Krankenbett. Der Sohn setzte sich zu ihm, nahm seine linke Hand und der Vater versuchte zuzudrücken. Der früher so starke Händedruck war nur noch ein Hauch von dem, was er einmal war. Früher schrie dieser Druck den Willen des Vaters heraus alles ändern zu wollen, besser zu werden. In manchen Momenten hatte den Sohn die pure Kraft eingeschüchtert, doch oft gab sie ihm im Gegenzug Gewissheit und Sicherheit.
Ein schwacher Händedruck kam einer Resignation gleich, die Last des Lebens hatte ihn in der Zielgerade eingeholt.
 Die Augen waren noch immer offen und es war Leben in sie zurückgekehrt. Sein Vater hatte ein letztes Mal die Kraft aufgebracht und die Fluchttüre noch ein letztes Mal weit aufgestoßen. Zwar war kein Feuer in ihnen zu sehen, doch er blickte ihn an und erwiderte noch einmal stärker den Händedruck.
„Mein Sohn ich liebe dich! Denk an unsere Besuche im Zoo, denk daran was wir dort entdeckt haben. Ich möchte dort, wo ich jetzt hingehe ein Buch darüber lesen. Du kannst so schön schreiben, ich freue mich darauf!“ Eine letzte Träne floss sein Gesicht herunter, als sein Sohn ihm zum letzten Mal auf die Stirn küsste.

Die Besuche im Zoo waren die schönsten Kindheitserinnerungen des jungen Mannes. Sein Vater war dort Wärter gewesen, kannte jede Ecke und jedes Tier. Für ihn waren es nicht nur Tiere, für ihn waren es Persönlichkeiten. Über jedes Tier konnte er Geschichten erzählen und zwar so lebendig, dass der Sohn sich niemals sicher war, ob sie der Wahrheit entsprachen oder Kinder der Phantasie seines Vaters waren. Hier war der Ort, an dem sein Vater wieder Kind sein konnte. Er erzählte Geschichten über den tatzigen Bären, der die Bienen gegen alle Gefahren beschützte und zum Dank immer etwas Honig abbekam. Er erzählte vom Adler, der die Freiheit genoss über die Wälder zu fliegen. Als der Adler jedoch einmal zu hoch geflogen war wurde es ihm zu kalt, seine Federn wurden steif und er stürzte in den höchsten Baum. Die Geister des Waldes retteten ihn, trugen ihn langsam zurück auf die Erde,  wo sie ihn warm mit ihrer Liebe ummantelten und lehrten ihn die Kunst der Bodenständigkeit.
Natürlich erzählte er ihm auch vom Wettrennen vom Hasen und Igel, das in einem regelrechten Festschmaus für den Fuchs endete, als der Hase tot zu Boden sank. Zuvor hatte der Fuchs Meister Lampe schon oft versucht zu fangen, bis er mit Meister und Frau Stachelig gemeinsam den Plan schmiedete den Hasen zu vernichten.
Die vielen Geschichten hatten ihn geprägt, auch die nötige Kraft gegeben seinem Vater die unschönen Situationen zu verzeihen und ihm immer zu helfe. Wie der Bär den Bienen, die ihn zwar manchmal stachen, doch in jeder Beziehung gibt es Geben und Nehmen. Höhen und Tiefen. Dank der Geschichten wollte er das Schreiben lernen und dank dem war er heute das was er war. Er sah niemals nur Menschen um sich herum, sondern ihre Geschichten, das was sie zu dem machten was sie waren. Und so drückte er nicht nur seinem Vater die Hand sondern seinem Freund, einem Mann, der zum großen Teil ein gutes Leben gehabt hatte und das er, der Sohn begleiten durfte und daran teilhaben durfte.

Der Junge aus dem Spiegel war nun frei und lachte unbekümmert. Glück.

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