Samstag, 30. Juli 2016

Der Kuss der Muse

Habe versucht mit Zeitsprüngen und verwirrten Geisteszuständen zu experimentieren. Ich würde gerne von euch wissen, ob es gelungen ist oder nicht. Mein Kopf sagt ja, aber ob man seinem Verstand immer glauben kann?


„Hallo, ich bin die Muse. Wenn ich dich streichle, dann beginnt es. Wenn ich dich küsse, dann fließt es. Worte drängen in deinen Kopf, tanzen umher und erschaffen eine eigene Welt. Wenn du den Kuss erwiderst, dich mir hingibst, dann kannst du der Welt ein Geschenk machen. Doch du sitzt nun hier und meinst ich hätte dich verlassen. Du siehst, du liegst falsch. Ich bin eine der schönsten Göttinnen, doch ich begebe mich zu dir. Zu deinem leeren Blatt Papier und deinem vollen Stift setze ich mich.“ 

Der alte Mann hatte in seinem Leben schon viel geschrieben, hatte Charaktere Leben eingehaucht und anderen eben dieses wieder genommen. Er hatte mit Gefühlen gespielt, Herzen gebrochen und die große Liebe gefunden. Er hatte Orte erschaffen, die bis dahin nur ihm offen lagen und nun der Platz für viele waren. 
Doch irgendwann hatte er das Gefühl alles erzählt zu haben, sich zu wiederholen. Er wollte sich neu erschaffen, wollte dass ihm erinnert würde. Wollte es sich und der Welt beweisen, dass er mehr konnte als das, was man auf der Toilette liest.
Das Dokument, das er an seinem Laptop geöffnet hatte, war bisher nichts wirklich greifbares, nichts. Einige Tage hatte er immer wieder angefangen, getippt um es im nächsten Moment wieder zu löschen. Es gefiel ihm nicht. Ein Gefühl der Leere, der unbegreifbaren Trauer überkam ihn. 
Er blickte die Muse an. Wunderschön, ihr Haar, das leicht lockig war, ihre Augen, die tief in seine Seele blickten, ihre Haut, so rein und doch nicht konturlos. Er wollte sich ihr hingeben, wollte alles. Die Muse lächelte ihn an, leichte Grübchen erschienen auf ihren Wangen, ihre Augen leuchteten. Langsam strich sie über seine Hand, über seinen Arm. Langsam, bis zu seinem Kopf, den sie nun mit beiden Händen festhielt. Als er sich ihr überließ ertönte der dumpfe Klang, wie eine Explosion. Er genoss es, harrte auch noch aus, als sie längst verschwunden war.
Und dann begann er zu schreiben. Es vergingen Stunden und Tage und er konnte nicht aufhören. In seinem Kopf tobte ein Farbenmeer, das wie aus vielen Eimern zusammengeschüttet aussah. Doch langsam begann es zu einem Bild zu verschwimmen Er brauchte keine Pause, nichts zu Essen, nichts zu trinken. Die Muse hatte ihm die Kraft gegeben. Seite um Seite schrieb er. Verwischte die Grundfarben zu einer Geschichte, die glänzte, schummerte, aber doch bedeutend  sein würde. 
Er schrieb immer weiter und weiter. Er musste nichts ein zweites Mal lesen, die Gewissheit war stark.  Es wurde tatsächlich etwas Neues, nichts banales. Mit der Banalität würde er ein für alle Mal abschließen. Sicher würden einige mit dem Bruch nicht klarkommen, würden das Buch enttäuscht zur Seite legen. Doch viele würden bemerken, was sie da in der Hand hielten. 
Das zufriedene Lächeln breitete sich zu aller erst in seinem Innersten aus, hatte schon längst den Klos in seinem Hals weggespült. 
Als er den letzten Satz beendete schlief er ein. Das Lächeln war nun nach Außen gedrungen, er strahlte wie schon lange nicht mehr. 
Die Muse holte ihn zu sich, strich noch einmal über sein Haar und zeigte ihm den Weg. Die Pistole, mit der er vor einigen Tagen die Stimmen aus seinem Kopf vertreiben wollte, lag neben seinem Schreibtisch. Sie war nun schon lange kalt.  Sein Werk flimmerte während dessen auf dem Bildschirm, wartend auf seine Entdeckung.

Die Stimmen hatten ihm vieles gegeben, die Geschichten eingeflüstert, die absurdesten Ideen möglich gemacht. Seine Erzählungen zeugten durch sie von der oft erwähnten Leichtigkeit. Leicht beschrieb er das Unmögliche, das Unerwartete und verblüffte so immer wieder auf das neue.  Doch die Welt draußen akzeptierte nur seine Werke, nicht ihn.
Als die Stimmen zu laut wurden veränderte er sich zusehends. Die Menschen begegneten ihm mit Verwunderung, darauf folgte meist Angst und Ablehnung.  Er konnte den Schmerz nicht länger ertragen. Sie sagten die Stimmen seien nicht echt, nur in seinem Kopf, es tat ihm weh. So musste sich ein Ausgestoßener fühlen. 
Immer öfter mied er es nach draußen zu gehen, wollte den Menschen, die ihn und sein Innerstes ablehnten nicht mehr begegnen.
Doch alleine mit seinen Gedanken begann er zu begreifen, dass die Stimmen in seinem Kopf nicht seine Freunde waren. Sie sagten ihm, dass es die beste Entscheidung war alle links liegen zu lassen. Doch als sie sagten, dass Marie ihn nie geliebt hatte und ihn deshalb im Stich ließ, schrie er. Schrie so laut er konnte. Er hatte Marie vergessen, seine Tochter, die ihn auch wegen der Stimmen verlassen hatte. 
Als seine Tochter ihn verließ und ihn komplett allein ließ, schafften es die zynischen Murmler, die Krächzer und die Schreier, dass er sie zuerst verteufelte und dann vergaß. Doch nun rissen sie diese Wunde auf, ließen ihn innerlich bluten.
Er begann sich nun zu wehren. Erst zaghaft und dann immer deutlicher. Schrie sie an zu gehen. Jedes Mal, wenn sie wieder meinten etwas sagen zu müssen. Doch sie gingen nicht. Er ignorierte sie, sagte ihnen, dass sie nicht echt seien. Doch sie hörten nicht. Sie hatten ihm so viel gegeben, seine Fantasie, seine Ausdruckskraft, dass sie mehr von ihm erwarteten. 
Doch er wollte ihnen nichts mehr geben, hatte begriffen, dass er durch sie viel mehr verloren hatte. Sein letzter Ausweg sah er in der Pistole.
Als er sie in die Hand nahm lies er sie lange durch die Finger gleiten. Sie war schön, leicht und doch so mächtig. 
„Nein!“, hallte es durch seinen Kopf, seinen Körper. Seine Hand führte die Waffe trotzdem an seine Schläfe. Plötzlich war Ruhe.
Die Stimmen bekamen Angst. Angst, dass es vorbei war, sie einfach ins Nichts verschwinden sollten. Sie gingen in den Untergrund, sein tiefstes Unterbewusstsein, dort wo er sie nicht hören konnte. Doch mit ihnen versteckte sich ein Teil von ihm, er verlor die Kraft zu schreiben. Es ging ihm nicht mehr gut.
Als die Stimmen dies mitbekamen witterten sie ihre Chance, kamen als Muse wieder. Doch der Mann begriff, die Stimmen würden niemals gehen. Er griff zur Waffe, die er für diesen Moment zur Seite gelegt hatte, schoss. Wenige Schüsse sind sofort tödlich, wer viel Pech hat lebt noch einige Tage, wer dabei Glück hat schreibt das Buch seinen Lebens. Doch ob man darin Glück sehen möchte ist eine andere Frage. Zumindest die Muse hatte kein Glück, als der Schuss ertönte wurde sie hinweggefegt. Während der Zeit, in der der Mann seine letzte Geschichte zu Papier brachte, hatte er keine Sinnestrübungen mehr. Keine auditiven oder visuellen Schatten seiner Persönlichkeit beeinflussten seinen Geist. 

Sein Strahlen war noch immer da, als Marie den Raum betrat. Sie hatte ihn nie verlassen, das Jugendamt hatte es damals so entschieden. Sie durfte sich nicht verabschieden, für ihren Vater war sie einfach verschwunden. 
Als sie ihn später, als erwachsene Frau, wieder gefunden hatte war sein Geist zerfressen, erkennen konnte er sie nicht mehr. Sie hatte ihm den Platz in der Klinik besorgt, sich um ihn gekümmert. Das Jugendamt hatte zwar Marie geholfen, doch ihr Vater wurde vergessen. Ohne Behandlung wurden die Phasen, in denen die Stimmen ihn beherrschten, immer länger, bis sie nicht mehr verschwanden. Dank Marie hatte er wieder schöne Tage, konnte atmen. Doch schreiben konnte er nichts mehr. In einem solchen Moment, in dem ihm seine Gedanken ihm gehörten schaffte er es den Pfleger, der ihm zuvor den Laptop zum schreiben gegeben hatte, dazu zu bewegen ihm die Waffe zu besorgen.
Als Marie ihn nun so sah lächelte sie. Lange saß sie an dem Bett, das die Klinik extra so schön hergerichtet hatte. Es war alles etwas kitschig, genau so wie sie die Geschichten ihres Vaters verstanden hatte. 

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